Zu Besuch bei Katharina im InfoPoint Altenahr:

Ein Job zwischen Bürokratie, Mitgefühl und Reflexion

An einem sonnigen Nachmittag besuchen wir Katharina in Altenahr. Der Container des InfoPoints steht auf einem Parkplatz. Dahinter, auf der anderen Straßenseite, fließt direkt die Ahr. Hier ist Katharinas Arbeitsplatz. Sie ist bereits seit September 2021 beim Helfer-Stab und ist eine der „Ur-InfoPointlerinnen“, wie sie sich selbst nennt. InfoPoints dienen als Anlaufstelle für Anwohner, um Informationen und auch Unterstützung zu erhalten, vor allem bei Fragen rund um die finanzielle Wiederaufbauhilfe. Doch im Laufe des Gesprächs mit Katharina wird immer klarer: Was zunächst nach einem Job zwischen Bürokratie und Antragsstellung klingt, ist viel mehr als das.

Doch beginnen wir beim Anfang. Katharina kommt aus Schuld. Dort wohnt sie schon ihr ganzes Leben. „Schuld ist meine Heimat. Meine ganze Familie kommt hierher. Natürlich ist es mein Ziel, mein zu Hause wieder aufzubauen.“ Als sich nach der Flut die Wassermassen langsam zurückziehen, geht Katharina runter ins Dorf. Dort erkennt sie nichts mehr wieder. Sie hilft, die ersten Häuser von Schlamm zu befreien, doch schnell wird ihr klar: Hier sind schon genug Helfende. Sie sucht Kontakt zur freiwilligen Feuerwehr und fragt, wo sie am besten helfen kann. So erfährt Katharina von WhatsApp Gruppen, die zur Fluthilfe ins Leben gerufen wurden. Sie willigt ein, diese zu moderieren.

Helfer Stab Mitarbeiter InfoPoint
Helfer Stab InfoPoint Innenansicht
Helfer Stab InfoPoint Info Point Hilfsangebote Ahrtal

InfoPoint Innenansicht

Durch dieses Netzwerk bekommt sie mehr und mehr einen Überblick über das Geschehen. Sie erfährt, dass in Bad Neuenahr Anlaufstellen für Bürger errichtet worden sind. Sie fragt an, wieso dies nicht auch in den anderen Verbandsgemeinden geschehe. Ihre Frage stößt auf Resonanz. Kurz darauf gründet sie mit anderen Anwohnern das provisorische Bürgerbüro Schuld in einem Zelt direkt im Ort. Hier versucht Katharina Anlaufstelle für alle Anwohner zu sein. Doch an viele Details aus dieser Anfangszeit erinnert sie sich nicht. „So viele Eindrücke sind auf mich eingeströmt, dass diese Zeit rückblickend sehr verschwommen auf mich wirkt.“

Katharina pausiert ihr Studium, weil sie merkt, wie wichtig ihre ehrenamtliche Arbeit vor Ort ist. Im September 2021 bekommt sie die Möglichkeit, im neu eröffneten InfoPoint in Schuld anzufangen. So kommt Sie zum Helfer-Stab. Aus der ehrenamtlichen Tätigkeit wird schnell eine Anstellung. „Wo ist der nächste Hausarzt? Wie funktioniert das zurzeit mit der Müllabfuhr? Wo finde ich Handwerker? In der Anfangszeit nach der Flut haben wir uns zunächst um Fragen des Alltags gekümmert. Ich habe versucht, mir so viel Wissen wie möglich anzueignen, um diese ganzen Infos dann herausgeben zu können.“, erinnert sie sich.

Als dann die Wiederaufbauhilfen kommen, bekommen alle InfoPointler Schulungen der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) zu den Antragsstellungen. „Ab diesem Zeitpunkt habe ich die meiste Zeit damit verbracht, Betroffenen beim Ausfüllen der Anträge zu helfen. Diese Arbeit war sehr wichtig. Es ging nicht nur um Fragen und Unklarheiten zum Antrag. Ältere Menschen hatten teilweise gar keinen Zugang zum Internet. Da war es wichtig zu sagen: Wir sind für euch da und begleiten euch!“ Irgendwann wurde das Arbeitspensum so hoch, dass noch eine zweite Person angestellt wurde – Katharinas Zwillingsschwester. Von da an arbeiten beide zusammen im InfoPoint Schuld. „Doch nicht nur das Arbeitspensum ist gewachsen, sondern auch ich als Person. Ich habe mir viele Kenntnisse angeeignet und das erste Mal tagtäglich mit Menschen zusammengearbeitet. Vorher kannte ich nur das Uni-Leben. Doch die Arbeit mit Menschen gibt mir wirklich viel.“

Helfer Stab InfoPoint Container Hilfsangebote

InfoPoint-Container in Altenahr

Anfang 2023 wechselt Katharina den InfoPoint Standort und ist seitdem in Altenahr. „Das war dann nochmal eine große Umstellung für mich. Anders als in Schuld bin ich in Altenahr mit mehr Betroffenen in Kontakt gekommen, die in der Flut Angehörige verloren haben. Da muss man besonders einfühlsam sein, sich Zeit nehmen, zuzuhören und auch mal sagen: Es ist okay zu weinen.

Das hier ist ein geschützter Raum.“ Viele Betroffene kommen im Laufe der Zeit immer wieder in den InfoPoint, weil sie weitere Fragen haben oder die Antragsstellung langwierig ist. Hier finden Sie Katharina als zuverlässige Ansprechpartnerin.

„Man hört viele Geschichten, die einem unter die Haut gehen.“, erzählt Katharina. Sie tauscht sich deshalb immer wieder mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus und findet Zeit für Gespräche. Wenn Katharina Feierabend hat, versucht sie die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. „Es ist wie ein Koffer, den du abends packst und dann vor der Tür stehen lässt.“ Doch die ganze Dankbarkeit, die Katharina entgegenkommt, lässt sie immer weiter machen. Auch jetzt, 2 ½ Jahre nach der Flut, ist die Arbeit im InfoPoint noch relevant. „Viele Betroffene waren oder sind noch immer traumatisiert. Deswegen kümmern sie sich erst jetzt um finanzielle Hilfen. Die Fälle, die wir jetzt bearbeiten, sind komplex und verlangen viele Rückfragen, viel Bürokratie und leider auch lange Wartezeiten.“

Hinter dem Konzept InfoPoint steckt viel mehr als nur die Hilfe bei der ISB-Antragsstellung. Viele Betroffene möchten reden und ihre Geschichte teilen. Und Katharina nimmt sich diese Zeit. „Wir sind keine reine Anlaufstelle für Antragsstellungen: Wir sind Orientierungshilfe, Kummerkasten, Reflexionsboard. Im Papierberg der Bürokratie kann man leicht die Orientierung verlieren. Ich versuche immer, Perspektive zu schaffen. Auch wenn der Weg noch nicht geschafft ist, möchte ich aufzeigen, welche Erfolge schon erzielt wurden und welche Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft wurden.“

Ein Gespräch im Rückblick auf die Aufsuchende Hilfe

An einem Herbsttag 2023 treffen wir Arno. Er ist Teil des Projektes Aufsuchende Hilfe, dass sich Ende September 2023 dem Ende zuneigt. Für uns ein guter Zeitpunkt, alles mal Revue passieren zu lassen. Doch was als kleines Gespräch über Arnos Arbeit anfängt, wird zu einem herzlichen, nachdenklichen, traurigen und lustigen Gespräch. Es geht um seine Erfahrungen nach der Flut, die Hoffnung auf die Zukunft und um Selbstfindung während einer Katastrophe. Hört gerne rein. Wir sagen Danke an Arno für seine Zeit und das schöne Gespräch.

Über das Projekt:
1 ½ Jahre wurde durch die flutbetroffenen Gebiete gegangen, an Türen geklopft und mit den Menschen gesprochen. So sollten Bedarfe erfragt werden und Hilfsmöglichkeiten angeboten werden. Unglaubliche 23.299 Menschen wurden so erreicht. Wenn ihr mehr über das Projekt der Aufsuchenden Hilfe erfahren wollt, schaut hier vorbei.

Hinweis:
Im Interview wird über die Flutkatastrophe und das Erleben der Katastrophe/die psychischen Folgen der Katastrophe gesprochen. Wenn das für dich ein schwieriges Thema ist, überlege dir, ob und wie du das Interview anhören möchtest.

Bigsis Arbeit im Helfer-Stab:

Hoffnung schenken und Glücksbringer-Kraniche

Schon in den ersten Tagen, nachdem das ganze Ausmaß der Flut deutlich wird, ist Bigsi klar: Sie möchte helfen. Und so schließt sie sich der Spontanhelfer-Gruppe Mendig hilft. Sie fängt an, Häuser in Bad Neuenahr leerzuräumen und sauber zu machen. Danach arbeitet sie bis September in einer Feldküche in Dernau, kocht und verteilt Mahlzeiten an Betroffene und Helfende. Bigsi fällt es schwer, den Alltag im Flutgebiet und die „heile Welt“ ein paar Kilometer weiter miteinander in Einklang zu bringen.

In Dernau kommt Bigsi in Kontakt mit anderen Spontanhelfern. Hier trifft sie Annika vom Helfer-Stab. Sie bekommt das Angebot, die Stabsstelle 7 für Soziales im Helfer-Stab zu übernehmen und nimmt den Job zunächst ehrenamtlich an. Doch bevor sie die neue Arbeitsstelle antritt, faltet sie über 130 Papier-Kraniche und legt sie in der Friedhofskapelle in Dernau aus. Nach einer japanischen Tradition stehen die Origami Kraniche für Hoffnung. „Das war mein Geschenk an die Gemeinde. Ich nahm mir vor, irgendwann wieder Kraniche zu falten und sie als Zeichen für Hoffnung und bessere Zeiten an tristen und traurigen Orten auszulegen.“, sagt Bigsi.

Origami-Kraniche

Doch ans Kraniche falten ist in der ersten Zeit im Helfer-Stab erstmal nicht zu denken. Es ist eine sehr hektische Zeit. Doch Bigsi denkt immer wieder darüber nach, wie man den Betroffenen und Helfenden Hoffnung schenken könnte. Bei den ersten Netzwerktreffen lernt sie andere Hilfsorganisationen und Spontanhelfer kennen. Martin Stark, damals bei den Elektroseelsorgern, erzählt von einem Lichterfest, dass er organisieren möchte. In gemeinsamer Absprache wächst in Bigsi die Idee für das „Grüne Licht.“ Ein Lichterfest von Blankenheim bis Sinzig, 70 Kilometer an der Ahr entlang: Überall sollen verschiedene Gebäude und Orte in grünem Licht als Zeichen der Hoffnung, der Heilung und des Lebens beleuchtet werden. Highlight ist eine Drohnenshow über Altenahr. Auch in ganz Deutschland werden die Menschen aufgefordert, ein grünes Licht leuchten zu lassen. Am 30. Oktober 2021 ist es dann soweit: Die Grünen Lichter leuchten überall! „Nie hätte ich gedacht, in so kurzer Zeit ein so großes Projekt umsetzen zu können. Doch es war eine Zeit der Solidarität. Plötzlich war alles möglich.“ Wichtige Unterstützer hierbei waren dabei Johannes Ansahl und Maximilian Baron, die sich sowohl um den Internetauftritt, als auch um die Beleuchtung in Mayschoss kümmerten.

Nahtlos geht es weiter. Tiny Häuser sollen in die Region gebracht werden, um flutbetroffenen Menschen heimatnahe Unterkünfte zu bieten. Der Helfer-Stab unterstützt beim Transport und der Organisation. „Es war eine sehr aufregende Zeit. Alle Projekte haben sich richtig angefühlt und schon damals dachte ich: ‚Das was wir hier tun, ist richtig‘.“, erinnert sich Bigsi und erzählt davon, wie sie beim Transport der Tiny Häuser hilft. Die Tiny Häuser passen kaum durch die schmalen Straßen der Dörfer und der Transport wurde zu einer großen Herausforderung. Nachdem diese Aktion vollbracht war, geht es auf Weihnachten zu. Für Tiny-Haus Bewohner sollen Willkommensgeschenke zur Weihnachtszeit bereitgestellt werden. Mit der Organisation und Auslieferung von Weihnachtsgebäck, Tassen, Decken und Gesellschaftsspielen wird unter anderen Bigsi betraut. Sie bekommt eine Liste mit Tiny Häusern, die sie besuchen soll. „Mir war es wichtig, die Geschenke persönlich zu überreichen. Ich wollte, dass die Menschen wissen: Der Helfer-Stab ist für euch da.“ Bigsi hilft auch tatkräftig beim Adventsmarkt in Bonn mit. Hier vermittelt sie viele Kontakte, damit Händler aus dem Ahrtal Glühwein von Ahrwinzern und „Flutstollen“ anbieten können.

Projekt Grünes Licht fürs Ahrtal

Im neuen Jahr sucht Bigsi Betroffene auf. Zusammen mit den Maltesern spricht sie mit den Anwohnern der flutbetroffenen Gebiete, hat für alle ein offenes Ohr und leistet Einzelfallhilfe. Bigsi ist es wichtig, dass die Menschen vor Ort wissen, dass jemand für sie da ist. Viele der Menschen vor Ort kennt sie schon von vor der Flut. Nach und nach wird ihr Netzwerk aus Anwohnern und Betroffenen immer größer. Dadurch erkennt Bigsi Bedarfe und Problemlagen, spricht mit den Menschen über Lösungsmöglichkeiten und vermittelt ihnen dazu entsprechende Kontakte zu Fachstellen. Sie wird persönlich zum runden Tisch der Kreisverwaltung eingeladen für den Fachbereich Jugend, Soziales und Gesundheit. Hier kann sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen. Im März 2022 startet dann das offizielle Projekt Aufsuchende Hilfe im Helfer-Stab in Kooperation mit den Maltesern. Bigsi ist davon aber kein fester Teil, sondern kümmert sich weiterhin um Projekte und recherchiert zu Themen in der Region. Doch die Origami-Kraniche lassen Bigsi immer noch nicht los: Irgendwann beginnt sie im Klappcafe und in der Waschbar zusammen mit Betroffenen Kraniche zu falten. Eine Betroffene ist besonders begeistert von dem Projekt. Sie stammt aus Japan und kennt sich mit der Tradition des Origami Faltens aus. Sie möchte Bigsi bei dem Projekt unterstützen. „Eines Tages kam ich in die Waschbar und dort stand plötzlich ein Schild ‚1000 Kraniche falten für einen Wunsch‘. Ich wusste gar nicht, wer das Projekt ohne mich angefangen hatte. Es stellt sich heraus, dass das Schild von der Betroffenen aufgestellt wurde. Eine alte japanische Tradition besagt, wenn man 1000 Kraniche faltet, hat man einen Wunsch frei. Und so falteten wir drauf los. Letztendlich konnte ich also doch mein Herzensprojekt umsetzen, dass ich mir schon ganz am Anfang vorgenommen habe.“

Tiny House Transport für das Ahrtal

Transport von Tiny Houses 

Transporter mit 2 Tiny Houses

Grünes Licht- Brücke in Rech

Nepomukstatue in Rech

Kerstins Arbeit im Helfer-Stab:

Die Superkraft des Netzwerkens

Sachspendenverteilung

„Als ich kurz nach der Flut gemerkt habe, dass die Koordination und Verteilung der frisch zubereiteten Lebensmittel verschiedener SEG-Vs diverser Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen nicht richtig funktioniert hat, bin ich zur ADD (Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion) gefahren, habe mich mit Auto und Anhänger quer vor deren Schranke gestellt und mir so ein Gespräch mit jemand aus der S4 des Verwaltungs-/Krisenstabs erzwungen. Dies war der erste Kontakt mit dem damaligen Krisenstab“ Das ist eine der ersten Erinnerungen, die Kerstin von der ersten Zeit nach der Flut erzählt. Von Tag eins an ist sie im Flutgebiet unterwegs, ist in den ersten 10 Tagen über 3.600 Kilometer zunächst als ehrenamtliches Mitglied des DRKs, einer SEG-V kreuz und quer durchs Ahrtal, in den ersten 4 Monaten über 60.000 km und inzwischen über 140.000 km gefahren und hat dabei Sachspenden und Speisen verteilt und einen Überblick im Bereich der Verpflegung gewonnen und sich mit den Spontanhelfern vor Ort und den diversen Hilfsorganisationen vernetzt. Am Ende hat sie über 2.000 Kontakte, weiß ganz genau an welchen Standorten welche Lebensmittel ausgegeben werden, wo welcher Bedarf besteht und mit wem sie zusammenarbeiten muss, um diesen zu decken. Zum Austausch und Besprechung der Lage setzt sie sich mit anderen Spontanhelfern wie z. B, aus der Offroader Fluthilfe zusammen – kurze Zeit später werden diese z. B. ihre ersten Kollegen im Helfer-Stab sein.  

Spielmobil-Anhänger 

Auf der Kalenborner Höhe richtet der Helfer-Stab sein Büro ein. Von dort aus koordiniert Kerstin in Zusammenarbeit mit DRK und ADD einen Teil der Versorgung für das Tal. Mit zwei Handys in der Hand führt sie täglich um die 250 Telefonate. LKW-Ladungen voller Hygieneartikel, Lebensmittel, Bautrocknern und vielem mehr lotst Kerstin ins Ahrtal und verteilt alles bedarfsgerecht an die verschiedenen Ausgabestellen wie zum Beispiel das Spendenverteilzentrum. Dabei arbeitet sie immer eng mit den anderen Spontanhelfern und auch offiziellen Stellen zusammen. Kerstin fuhr regelmäßig von Lager zu Lager. Nur so konnte sie die Bedarfe genau ermitteln, demnach gezielt Spenden generieren und mit den Menschen vor Ort in Kontakt bleiben. Das brachte ihr schon nach kurzer Zeit den liebevollen Spitznamen „Die Dealerin“ ein. Auch große Unternehmen kontaktierten sie oder boten Spenden an, was schonmal zu logistischen Herausforderungen führen konnte. „PepsiCo Deutschland z. B. war bereit uns Softgetränke zukommen zu lassen. Statt den angedachten 440 Kisten Softdrinks hatte ich aber plötzlich 440 Europaletten zu koordinieren.“, erinnert sich Kerstin. Die Hilfsbereitschaft war überwältigend.  

AED – Automatisierter Externer Defibrillator in Lind

All das war eine Extremsituation. „Oft bin ich morgens früh aufgewacht und war nicht sicher, ob ich etwas schon erledigt habe oder ob ich nur davon geträumt habe. Es war eine sehr surreale Zeit. “Ganz am Anfang, Tag 3 ungefähr, wurden dringend Warmhaltebehälter, sogenannte Thermophore für den Transport von Mahlzeiten benötigt. Als Kerstin am Telefon erfährt, dass die Behälter frühestens in einigen Tagen da sein können, erwähnte ihr Gesprächspartner spaßeshalber, es ginge nur schneller, wenn sie einen Hubschrauber schicken würde. Als Kerstin die Zielkoordinaten erfragte, legte der Mann irritiert auf. Er hatte Kerstins Frage einfach als Scherz abgetan und nicht ernst genommen. „Wir waren alle im Krisenmodus und lebten im Ahrtal plötzlich in einer anderen Welt. Mir war in diesem Moment gar nicht bewusst, wie seltsam es klingen musste, dass ich in der Lage war, einen Hubschrauber zu organisieren. Doch plötzlich war sowas möglich.“ Bevor Kerstin beim Helfer-Stab anfängt, ist sie beim DRK. „Eine Kollegin dort hat etwas gesagt, was mir sehr nahe gegangen ist. Auf die Frage, in einem Fernsehinterview, wie sie die Flutkatastrophe erlebe, sagte sie: ‚Das hier ist wie Krieg, nur mit freundlichen Menschen“. Wenn man diese Geschichten hört, ist es kaum vorstellbar, dass keine 20 Kilometer weiter der Alltag ganz normal weitergeht. Doch dort lebt Kerstin eigentlich. Glücklicherweise ist ihr zu Hause von der Flut verschont geblieben. Diese beiden Welten in ihrem Kopf zu vereinen fiel ihr sehr schwer. Rückblickend habe sie diese Zeit sehr verändert. „Meine ganze Wertschätzung gegenüber dem, was wir haben, haben sich grundlegend geändert. Auch mein Einkaufsverhalten ist völlig anders geworden.“  

Flüssiggas-Spende

Sanitätsrucksäcke und Behandlungsliegen

Feuerwehr Absorbtionsmittel-Spende

Sind es in der ersten Zeit nach der Flut hauptsächlich Lebensmittel, Hygieneartikel und Produkte für den Grundbedarf, die als Spenden eintreffen, generiert Kerstin später Spenden, mit denen sie langfristig die Infrastruktur unterstützen will. Das sind zum Beispiel Material und Ausstattung für Schulen wie z. B. Möbel oder Behandlungsliegen und Sanitätsrucksäcke über das DLRG. „Etwa ein Jahr nach der Flutkatastrophe war vor allem mein Ziel, die Region wieder zu stärken. Nur so können wir in die geordneten Strukturen zurückkehren. Heute werden hauptsächlich Geldspenden bevorzugt. Viele andere Produkte können wir heute wieder von lokalen Verkäufern bekommen.“ Eins ihrer letzten Projekte war die Anschaffung und Ausstattung von Spielmobilen u. a. in Kooperation mit der Kreissparkasse Ahrweiler. Das sind für Kerstin langfristige und nachhaltige Projekte, die für viele Jahre einen Mehrwert haben werden. „Jedes Mal, wenn für ein Dorffest eins der Spielmobile ausgeliehen werden und ich die spielenden Kinder sehe, freue ich mich.“  Auch konnte sie in einem weiteren Projekt inzwischen 26 AEDs (Automatisierte Externe Defibrillatoren für das Kreisgebiet generieren.

Öl- und Chemikalienabsorbtionsmittel-Spende

Bis heute hat Kerstin ein Volumen von über 1,8 Millionen Euro Spenden generiert und verteilt. Davon rd. 160.000 € Geldspenden, die in Projekte geflossen sind, alles andere Sachspenden, über 1.000 Paletten. Das große Netzwerk, dass in der ganzen Zeit aufgebaut wurde, wird von ihr und dem gesamten Helfer-Stab weiterhin gepflegt, erweitert und aktiv genutzt. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die Kontakte aufrechterhalten werden und wir uns auch in der Zukunft gegenseitig unterstützen. Getreu dem 3-K-Prinzip, „in der Krise Köpfe kennen“.

Ein Gespräch:

Im März 2023 treffen sich Adrian und Missy Motown und lassen die vergangenen Ereignisse Revue passieren. Es geht um die erste Zeit nach der Flutkatastrophe, ihre Zeit als zivile Helfer, die Gründung des Helfer-Stabs und auch die Schwierigkeiten, die sich durch die Arbeit im Helfer-Stab ergeben.   

Toms Arbeit im Helfer-Stab:

Zwischen Chaos, Multitasking und Selbstfindung

Das Ahrtal ist geprägt von Dörfern im Tal und in den Höhenlagen. Tom wohnt in Krälingen. Hier auf dem Berg können die Menschen an Tag eins nach der Flut nur erahnen, was sich gerade im Tal abspielt. Schnell schließen sich alle Dorfbewohner zusammen, denn sie sind sich einig: Wir wollen helfen.

 

Nach und nach wächst in der Dorfkapelle ein Material- und Spendenlager. Alle packen mit an. Auf dem Sportplatz kommen Busse an, die freiwillige Helfer ins Tal und wieder zurückbringen. Hier landet auch der Hubschrauber, um Material hinunter ins Tal zu bringen. „Alles hat sich unglaublich schnell entwickelt. Nun sah unser Alltag für viele Wochen so aus: Morgens früh wurde an der Dorfkapelle eine kleine Ansprache gehalten, um einen Überblick über die Lage zu bekommen. Danach haben wir uns in Gruppen eingeteilt: Ein paar von uns haben Spenden und Material sortiert. Andere sind ins Tal gefahren.“, erinnert sich Tom. 

Anzünden eines kleinen Osterfeuer

Diese Extremsituation ist nicht dauerhaft auszuhalten. Irgendwann braucht Tom eine kleine Pause. Doch bevor er sich diese nehmen kann, kommt alles ganz anders: Während er im Tal hilft, stürzt er und verletzt sich am Knöchel. Als er allein und voller Schlamm im Krankenhaus liegt, ist es das erste Mal seit Wochen ganz ruhig. Und es ist das erste Mal, dass Tom die Geschehnisse der Flut Revue passieren lassen kann. Diese Zwangspause tut gut, doch sie bringt auch eine Erkenntnis: Er möchte sich weiterhin in der Fluthilfe engagieren. Und so wird er nach seiner Genesung von seinem bisherigen Job freigestellt und übernimmt zunächst ehrenamtliche Tätigkeiten im neu gegründeten Helfer-Stab.  

 

Toms Aufgabe im Helfer-Stab ist die Betreuung der Hotline. Dieser Job ist weitaus herausfordernder als er zunächst klingt. „Es gab keine Einarbeitung, kein Schreibtisch mit Telefon. Es gab nur ein Handy und unfassbar viele Betroffene, die Hilfe brauchten. Also telefonierte ich drauf los. Und das Telefon stand nie still.“ Der Helfer-Stab macht sich ein Bild von der Lage vor Ort, sammelt Informationen und baut sich ein immer größeres Netzwerk aus Spontanhelfern, Hilfsorganisationen und offiziellen Stellen auf. Das ist wichtig, denn nur so kann der Helfer-Stab Ansprechpartner für alle wichtigen Themen rund um die Flut und den Wiederaufbau sein. Tom kann nun Betroffene und freiwilligen Helfer an die passende Stellen und Netzwerkpartner weitervermitteln. Die Anfragen reichen von Transportmöglichkeiten, zu fehlendem Baumaterial bis hin zu der Suche nach Unterkünften. „Unser Motto war: Falls wir die Antwort nicht haben, kennen wir jemanden, der sie hat. Uns war es wichtig, dass die Menschen wissen: Wenn du hier anrufst, wird dir weitergeholfen. Egal was es auch ist. “ 

Klappcafe

Inzwischen ist November 2021. Tom ist inzwischen fest beim Helfer-Stab angestellt, geht auf Netzwerktreffen, lernt immer mehr Menschen kennen und hilft wo er kann. Als die ersten InfoPoints errichtet werden, unterstützt er diese mit der Ausstattung und IT. Mittlerweile hat der Helfer-Stab sein Büro im Sportlerheim in Krälingen eingerichtet und es können weitere Mitarbeiter angestellt werden. Nach und nach kommt mehr Struktur in den Arbeitsalltag. Arbeitsabläufe werden digitalisiert, eine Büroleitung verteilt Aufgaben und behält die Übersicht. Und trotzdem ist die Arbeit auch ein paar Monate nach der Flut immer noch oft von Chaos und Hektik geprägt. „Viele Situationen mussten einfach sofort gelöst werden. Oft wurde die richtige Struktur erst nach dem Lösen des akuten Problems geschaffen.“ Tom ist mittlerweile auch in andere Aufgaben involviert. Er fährt durch das Flutgebiet, unterstützt vor Ort, teilt Material aus, transportiert Möbel bei vielen Umzügen, hilft beim Auf- und Abbau von Informationsveranstaltungen und Netzwerktreffen. Währenddessen telefoniert er weiter. „Diese ganze Zeit ist in meiner Erinnerung verschwommen, weil einfach so viel auf einmal passiert ist. Wenn ich beschreiben müsste, was mein Job in der Anfangszeit war, dann kann ich nur sagen: Irgendwie alles auf einmal.“  

2022 hilft Tom auch immer wieder bei Anfragen und Projekten zum Thema Ukrainehilfe. Neben organisatorischen Aufgaben und der Bearbeitung von Anfragen per Mail organisiert Tom beispielsweise mit einem Kollegen eine Fahrzeugüberführung an der polnischen Grenze. „Man wird sensibler für andere Katastrophen, wenn man selbst schon mal eine Katastrophensituation erlebt hat – auch wenn sich diese immer voneinander unterscheiden. Es ist schön, wenn wir helfen können. Doch es ist wichtig, am Feierabend die Gedanken daran abstellen zu können, damit einem die Situation nicht zu nahe geht.“  

 

Tom wird immer klarer, dass er auch langfristig mit Menschen arbeiten möchte. Er beginnt neben seinem Job ein Studium in Sozialer Arbeit. Im Helfer-Stab wechselt er in die Stabsstelle 7 für Soziales. Später wird dies die PSV (Psychosoziale Versorgung). In Kooperation mit anderen Partnern betreut die Abteilung die Einzelfallhilfe, organisiert Kinderfreizeiten und arbeitet mit dem Hospizverein zusammen. Toms Zeit beim Helfer-Stab ist mittlerweile zu Ende gegangen und er hat ein neues Kapitel aufgeschlagen. „Ich war Umzugshelfer, Seelsorger, habe Büroarbeit gemacht, organisiert und geplant. Ich habe gesehen, wie sich Menschen in einer Katastrophe verhalten und wie sich währenddessen ein Unternehmen aufbaut. All das habe ich miterlebt und dabei viel gelernt. Und irgendwie habe ich mich dabei im Chaos selbst gefunden.“ 

Helfer-Stab gGmbH
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